DFG-Projekt "Beredte Tiere. Narrative Konfigurationen von Mensch-Tier-Beziehungen in der Tierliteratur des 14.-16. Jahrhunderts" (2015-2018, Leitung: JProf. Dr. Julia Weitbrecht)
Das Projekt untersucht in drei Unterprojekten die Darstellung und Funktionalisierung von Tieren in der Tierdichtung (Fabel und Epos) sowie der wissensvermittelnden Literatur (Naturkunde) des 14.-16. Jahrhunderts. Diese Texte werden übergreifend als Tierliteratur behandelt, da in ihnen Tiere als mit Eigenschaften versehene Figuren beschrieben und – auf der Handlungs-, der Auslegungs- oder auf der Ebene der Wissensvermittlung – in ein Verhältnis zum Menschen gesetzt werden.
In diesem Sinne reflektiert Tierliteratur Mensch-Tier-Beziehungen, indem sie Menschen und Tiere miteinander konfrontiert und sie interagieren lässt. Tiere sind in diesen Texten nicht ausschließlich anthropomorph und mitunter nicht einmal sprachbegabt, doch sprechen sie in ihren Repräsentationen stets zum und vom Menschen, ohne dabei ihre ‚Tierheit‘, den Eigensinn ihrer jeweiligen Spezies, zu verlieren. Da sie somit stets auch als Akteure in Wissensprozeduren fungieren, soll untersucht werden, wie die Grenzziehung zwischen Mensch und Tier in den behandelten Texten durch das Tier kommuniziert und im Spannungsfeld von Wissen und Erzählen immer wieder neu hervorgebracht wird.
Dieser Zusammenhang ist für den zu untersuchenden Zeitraum von besonderer Relevanz, da die in großer Zahl entstehenden volksprachliche Enzyklopädien, Fabelkorpora und Tierepen einen produktiven Umgang mit den bisher weitgehend stabilen Darstellungstraditionen in Bezug auf Tiere aufweisen. Tiere behalten ihre hier allegorische Verweisfunktion, werden aber zunehmend auch politisch, anthropologisch und ästhetisch lesbar. Indem sich die volksprachliche Tierliteratur seit dem späten Mittelalter vom pragmatischen Kontext der Schullektüre löst und in neuen Kontexten neue Wissensformationen bildet, entfaltet sie das imaginative Potential des beredten Tieres neu.
UP 1 Tierwissen und Tierprojektionen. Wissenspoetische Verhandlungen von Mensch-Tier-Beziehungen in deutschsprachigen Fabelsammlungen und Naturkunden des 14.-16. Jahrhunderts (Julia Weitbrecht)
Enzyklopädische und erzählende Literatur beschäftigen sich aus jeweils ganz unterschiedlichen Perspektiven mit der ‚Natur‘ der Tiere: Naturkundliche Texte distribuieren ein über Eigenschaften organisiertes Wissen über Tiere, das in moralisierenden oder allegorisierenden Tiererzählungen wiederum in Bezug zum Menschen gesetzt wird. Umgekehrt beziehen die naturkundlichen Schriften ihr Wissen aus Erzählungen oder vermitteln es in narrativer Form. Wissen über Tiere und Erzählen von Tieren scheinen einander somit im Sinne einer Wissenspoetik zu bedingen, die Wissen über Tiere nicht nur erzählerisch vermittelt, sondern in der Tierliteratur auch erzeugt. Die Untersuchung solcher Interferenzen verspricht daher Erkenntnisse über spezifische narrative Konfigurationen von Mensch-Tier-Beziehungen, die in der volksprachlichen Literatur im Übergang zur Frühen Neuzeit ein Tierwissen generieren, das im Kontext zeitgenössischer Differenzierungsprozesse von Literarisierung und Verwissenschaftlichung steht.
UP 2 Räume und Grenzgebiete der Mensch-Tier-Beziehungen in der spätmittelalterlichen Fuchsepik (Reynke de Vos, 1498) (Hannah Rieger)
Das Erzählen vom Tier und dessen Rezeption setzen ein komplexes Verständnis der Beziehung von Tier und Mensch voraus. Wenn Tiere als Träger menschlicher Eigenschaften beschrieben werden, von ihren Wesenszügen und Verhaltensweisen in für den Menschen lehrhafter Absicht erzählt wird oder sie in satirischen Texten gar als Chiffren für realhistorische Personen dienen, so legt die Möglichkeit einer solchen Überblendung nahe, von grundlegenden Gemeinsamkeiten zwischen (literarisch erzeugten) Tieren und (literarisch erzeugten wie real existierenden und rezipierenden) Menschen auszugehen. Besitzen diese Tiere allerdings weiterhin auch animalische Eigenschaften oder treffen sie im literarischen Text selbst auf menschliche Figuren, so werden Mensch und Tier auch immer wieder auf Distanz gebracht.
Am Beispiel der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Fuchsepik, im speziellen des mnd. Reynke de Vos (1498), wird das Projekt die Gestaltung dieses Geflechts von Ähnlichkeitsbezügen und Abgrenzungsverfahren nachvollziehen. Dabei liegt ein Schwerpunkt auf den Grenzziehungen bzw. -auflösungen des literarisch hergestellten Raumes. Das Projekt geht somit der Frage nach, wie die literarisch inszenierte Beziehung zwischen Mensch und Tier mit der narrativen Entfaltung geografischer, sozialer und kultureller Räume zusammenhängt.
UP 3: Krieg der Spezies. Der Funktionswandel der Tierdarstellung in den Tierkriegsepen des 16. Jahrhunderts (Georg Rollenhagens Froschmeuseler, H. C. Fuchs’ Mückenkrieg, Johann Fischarts Flöh Hatz / Weiber Tratz) (Renke Kruse)
Im Rückgriff auf die antike Batrachomyomachia tauchen in den Tierkriegsepen des 16. Jhd. Klein- und Kleinsttiere wie Frösche, Mäuse und Insekten als Protagonisten auf. Die literarische Inszenierung von Animalität im Mückenkrieg, Froschmeuseler und Flöh Hatz, Weiber Tratz ermöglicht jeweils neue Darstellungsformen von Krieg, Gewalt, Körperlichkeit und Geschlecht. Untersuchungsgegenstand des Unterprojektes ist somit das Spannungsfeld von Animalität und Humanität. Aus diesem heraus werden im Froschmeuseler und in Flöh Hatz, Weiber Tratz aus der Perspektive des Tieres heraus Tier-Mensch-Beziehungen konfiguriert, während in den Schwarmdarstellungen des Mückenkrieges verschiedene Spannungen der Wandlungsprozesse im 16. Jhd. literarisch realisiert werden.